Wunderwaffe Kreativität

9. Dezember 2021KreativitätKreativwirtschaftKooperation: erschienen in eco.nova | September 2021
Text von Tom Jank

Kreativität gilt als Wunderwaffe des Menschen gegen die Macht der Maschinen. Die können zwar schneller analysieren, sich mehr merken und dank vieler Hightech-Funktionen auch gleichzeitig mehr wahrnehmen, doch der Mensch kann „out of the Box“ denken. Menschen können Zusammenhänge selbst in vermeintlich unzusammenhängenden Situationen erkennen und Dinge neu kombinieren. Kurzum: Wir Menschen haben selbständig Ideen und das ist der gravierendste Unterschied zu einer Kuh oder eben einer Maschine.

Kreativität wird immer wichtiger. Zum einen wird das Produzieren in unseren Gefilden immer teurer, ergo: Ideen werden hierzulande in Zukunft wichtiger sein als Produkte. Zweitens wird die Welt immer komplexer. Die wichtigste Aufgabe von Kreativität ist es, die Dinge einfacher zu machen. Folglich werden kreative Jobs sichere Jobs sein. Arbeiten, deren Prozesse sich wiederholen lassen, werden indes immer schneller durch „Automaten“ ersetzt. Der kreative Geist kann (noch) nicht maschinell ersetzt werden. Und letztlich hilft Kreativität gegen das Denken in Problemen.

Wenn wir zu einer wohltätigen Institution gingen und um Mittel für die Bekämpfung von Aids bitten würden, bekämen wir wahrscheinlich einen Zuschuss. Wenn wir darum bitten würden, Wissenschafter*innen bei ihrer Arbeit zu unterstützen, das menschliche Denken zu verbessern, hätten wir eher keinen Erfolg. Denn was nicht als Problem wahrgenommen wird, dem widmen wir in der Regel keine Aufmerksamkeit. Lange wurden etwa Erdbohrungen vertikal vorgenommen, bis ein schlauer Kopf meinte, ab einer gewissen Tiefe solle man die Bohrung doch horizontal weiterführen. Das Ergebnis: Heute ist dies ein Standardverfahren, das drei- bis sechsmal effektiver ist. Warum hatte dieses Verfahren niemand vorher erfunden? Weil niemand ein Problem damit hatte.

Kreatives Denken funktioniert anders als Problemlösungsdenken. Es ist beobachtend, stellt Dinge in Frage, ohne dass diese bis dato ein Problem waren. Das stört den vermeintlichen Frieden, kommt ungefragt und erscheint den Menschen deshalb oftmals unnötig. Doch wir werden dieses kreative Denken immer stärker und bewusster einsetzen müssen, wenn wir nicht stagnieren, sondern wachsen wollen.

Das Problem der Spezialisten

Kreativität ist eine sehr junge Disziplin und per se eine Möglichkeitswissenschaft. Sie befasst sich mit den Strukturen, in denen Ideen besser entstehen können. Das Problem: Wenn wir über die Qualitäten von Möglichkeiten reden, ist das den Spezialisten zu unkonkret. Die Sache aber ist die: Zu Beginn können Möglichkeiten quasi qua definitionem gar nicht konkret sein. Gute Kreative sind somit Spezialisten der Ungewissheit und ihre zentrale Frage ist: Wie geht Gewohntes anders? Das macht Spezialisten in Unternehmen nervös, denn die sind es gewohnt, dass Zahlen und Fakten ihre Welt bestimmen.

Das Paradoxon in den Unternehmen

Der Druck, bei der Arbeit eher produktiv als kreativ zu sein, wächst. Gleichzeitig ist bewiesen, dass kreative Unternehmen produktiver sind. Kreative Prozesse funktionieren jedoch anders als viele lineare Geschäftsprozesse, die permanent optimiert, beschleunigt und effizienter gemacht werden (können). Der Ideenprozess ist nichtlinear und beinhaltet alles, was das Controlling eines Unternehmens generell ablehnt: mehr Zeitaufwand, vermehrt Diskussion, inhomogene Gruppen, Zusatzbudgets und das Risiko des Scheiterns.

Nun ist es leicht zu sagen, dass Kreativität eine wichtige Transformationskraft und ein wesentlicher Bestandteil einer Organisation ist, aber ihre Förderung ist eine ganz andere Sache: Als das Weltwirtschaftsforum 2019 in Davos zu Ende ging, setzten sich Cisco-Chief-People-Officer Francine Katsoudas, Niels B. Christiansen, CEO der Lego Group, C. Vijayakumar, CEO und Präsident von HCL Technologies, und Ideo-CEO Tim Brown mit Stephanie Mehta, Chefredakteurin von Fast Company, zusammen und diskutierten darüber, wie eine Organisation geschaffen werden kann, die die menschliche Kreativität wirklich nutzt. Die einfache Antwort, auf die sich alle vier einigen konnten: die Notwendigkeit reibungsloser und autonomer interner Teams. Zusammengenommen waren sich die Diskussionsteilnehmer einig, dass unabhängig von der Branche im Laufe der Zeit ein zunehmender Bedarf an neuen und undefinierbaren Fähigkeiten bestehen wird oder wie es Niels B. Christiansen ausdrückte: „Wir kennen 80 Prozent der (zukünftigen) Jobrollen nicht. Ich garantiere Ihnen, dass wir ein größeres Bedürfnis nach Kreativität haben werden.“

Zukunftsfaktor Kreativität

Bereits eine Forrester-Studie* von 2014 zeigte auf: Kreativere Unternehmen erreichen einen größeren Marktanteil und eine führende Position im Wettbewerb. Die Umfrage ergab, dass kreative Unternehmen mit höherer Wahrscheinlichkeit eine dominierende Marktstellung mit einem höheren Marktanteil verzeichnen als ihre Mitbewerber. Unter den Unternehmen, die sich als Marktführer positioniert sehen, ist die Anzahl der kreativen Unternehmen um den Faktor 1,5 größer als die der weniger kreativen Mitbewerber. Kreativere Unternehmen gewinnen außerdem mehr Anerkennung als begehrter Arbeitsplatz und Unternehmen, die Kreativität fördern, erzielen im Vergleich zu Mitbewerbern ein außergewöhnliches Umsatzwachstum. 58 Prozent der Befragten, die in ihren Unternehmen nach eigenen Aussagen Kreativität förderten, erreichten ein Umsatzwachstum von mindestens zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Gegensatz dazu konnten nur 20 Prozent der weniger kreativen Unternehmen einen vergleichbaren Erfolg vorweisen.

Letztlich gedeiht Kreativität mit Unterstützung der Führungsebene. Unabhängig von der Art des Geschäfts oder der Branche zeigen die Ergebnisse der Umfrage, dass Führungskräfte Programme zur Förderung von Kreativität finanziell und strategisch unterstützen sollten. Hierzu gehören die frühe Einführung neuer Strukturen und Technologien sowie die Schaffung neuer Kundenerlebnisse, die Bindungen aufbauen und die Markentreue verstärken.

Trotz der wahrgenommenen Vorteile von Kreativität betrachten sich 61 Prozent der Unternehmen übrigens als nicht kreativ. In der Umfrage unter Businessentscheidern gaben nur elf Prozent an, dass ihre Strategie perfekt mit jenen Unternehmen übereinstimmt, die bereits als kreativ gelten. Die Mehrheit (51 %) betrachtete sich als neutral oder gab zu, sich nicht an kreativen Unternehmen zu orientieren. Zehn Prozent sahen ihre Strategie sogar als das Gegenteil von dem, was kreative Unternehmen tun.

Kreativität als konkretes Geschäftsziel

Die meisten Unternehmen etablieren Standard-Geschäftspraktiken und Strategien rund um Hard- und Software-Upgrades, Mitarbeiterschulungen oder um die motivierende Gestaltung von Innenräumen und Außenanlagen. Nachdem designgeführte Innovation bereits auf dem Vormarsch ist, wird nunmehr der Aspekt der Kreativität zu einem wesentlichen Erfolgstreiber in den Unternehmen. Und so setzen viele Betriebe dahingehend neue Prioritäten, führen Prozesse ein und stellen Budgets bereit.

Als die Teilnehmer der Forrester-Studie nach ihren Ansichten zu Kreativität befragt wurden, gaben sie unisono an, dass Kreativität als einer der wichtigsten Schlüsselfaktoren für den Unternehmenserfolg betrachtet wird. Unternehmen, die an der Studie teilnahmen, beschrieben die möglichen Investitionen dafür als einfache Maßnahmen wie das Festsetzen von Zielen sowie die Entwicklung von Methodik und Prozessen, die mehr Kreativität ermöglichen. Die Förderung von Kreativität kann auch aufwendiger sein und beispielsweise Investitionen in disruptive Technologie oder Early-Adopter-Programme bedeuten. Jens Uwe Meyer, Vordenker und Keynote-Speaker für Innovation und Digitalisierung, beschreibt das in seinem Buch „Kreativ trotz Krawatte“ schon 2011: In den meisten Unternehmen herrschen vorgefertigte Abläufe. Mit diesen standardisierten Prozessen werden auch neue Mitarbeiter konfrontiert: Dem Bewerbungs- und Einstellungsprozess folgt der Einarbeitungsprozess, es gibt Weiterbildungs-, Bewertungs- und Beförderungsprozesse, der Produktionsprozess regelt genau, wer was wie in der Fertigung zu tun hat, ein Evaluierungsprozess stellt sicher, dass die Qualität immer gleichbleibend hoch ist, und so weiter. Manager haben gelernt, Prozesse zu entwickeln, zu optimieren und zu kontrollieren, Regeln aufzustellen, Schnittstellen zu identifizieren und die Prozesseffektivität zu messen. In fast allen Bereichen eines Unternehmens macht das auch Sinn. Nur in einem nicht: Kreativität.

Kreative Prozesse sind anders

Alles immer schneller und mit weniger Ressourcen zu machen. Dazu haben sich auch die „Ideeologen“, eine der führenden Agenturen für Innovationsmanagement und Innovationsberatung, Gedanken gemacht und die Prozesse in Unternehmen durchleuchtet. Die Erkenntnis, die sie zum Beispiel bei Kirsten D. Sandberg von der Harvard-Universität gefunden haben: Das Streben nach schlanken Abläufen hat viele Unternehmen dazu veranlasst, die Stillstandszeiten aus menschlichen Prozessen herauszunehmen. Was wir Stillstandszeiten oder ungenutzte Kapazität bei einer Maschine nennen, könnte beim Menschen mit Denkzeit oder Inkubationszeit gleichgesetzt werden. Dem Management großer Unternehmen fehle es an Verständnis für den Ablauf kreativer Denkprozesse. Manager denken in klassischen Produktionsprozessen. Diese jedoch seien fundamental anders als kreative Denkprozesse: Diese Prozesse sind linear, eindeutig und vorhersehbar. Wir können sie anfassen, analysieren und verbessern, indem wir Zeit und andere Ressourcen verbessern. Zeit ist Geld. Weniger ist mehr: Je kürzer ein Prozess dauert, desto mehr Geld verdient man. Ein Gedanke jedoch entstammt häufig einem nichtlinearen, unterbewussten oder sogar zufälligen Prozess und die Natur der Transformation kann jedes Mal stark variieren.

Die US-Wissenschaftler Alan G. Robinson und Sam Stern haben in mehreren hundert Unternehmen geniale Ideen auf ihren Ursprung zurückverfolgt. In jedem Unternehmen, das sie untersucht haben, haben sie Menschen getroffen, die fühlten, dass das kreative Potenzial ihrer Unternehmen weit größer ist, als es die aktuelle Leistung vermuten lässt. Ein Dilemma, das sich erst dann ändern wird, wenn die wahre Natur von Kreativität generell anerkannt wird. Der Großteil des kreativen Potenzials eines Unternehmens ist mit den herkömmlichen Planungs- und Kontrollmechanismen des Managements praktisch nicht erreichbar.

Wie aber funktioniert es dann? Keines der untersuchten Unternehmen hat Prozesse abgeschafft. Doch sie haben sie zum großen Teil ergänzt. Durch Arbeitsstrukturen, die kreatives Denken fördern und zulassen. Kreativität muss sich nicht den Prozessen unterordnen. Die Prozesse ordnen sich der Kreativität unter.

Operative Stärke, kreative Schwäche

Den Grund für mangelnde Kreativität kennt die Forschung übrigens mittlerweile: Eine falsche Herangehensweise bei der Teamzusammenstellung und eine eingefahrene Personalpolitik. In vielen Unternehmen gilt die Branchenerfahrung noch immer als „Goldenes Kalb“, weil sie den operativen Bereich stärkt. Aus der operativen Stärke wird jedoch schnell eine kreative Schwäche, wenn es um die Entwicklung neuer Ideen geht. Da ist Branchenerfahrung nur bedingt hilfreich. Manchmal ist sie sogar hinderlich. Denn jede Branche hat ihre eigenen Wahrheiten und Gesetze davon, was geht oder eben nicht, und neigt dazu, diese zu bestärken. Wenn von zehn Mitarbeitern zehn auf Grund ihrer Branchenerfahrung ausgesucht wurden, ist das ein Garant dafür, dass die Abteilung in alten Ideen und Ansätzen verharrt. Betrachtet man dagegen die weltweit innovativsten Unternehmen, so weichen die Profile der Mitarbeiter häufig und stark von den Standardprofilen ab. Statt zu versuchen, Ideen und Innovationen innerhalb klassischer Strukturen zu fördern, richten sie ihre Strukturen so aus, dass Ideen und Innovationen gedeihen können.

Daher sollte die Entscheidung darüber, welche Mitarbeitertypen das Unternehmen sucht, gerade im Bereich Innovation sorgfältig überlegt sein. Eine homogene Mitarbeiterschaft mit hoher Branchenerfahrung erreicht kurzfristig mehr Effektivität: weniger Einarbeitungszeit, weniger Zeit mit Diskussionen. Langfristig jedoch führt eine Einstellungspolitik, die nach mehr Heterogenität sucht, zu mehr Kreativität. Für beide Strategien gibt es gute Argumente. Wichtig ist das ausgewogene Verhältnis zwischen Insidern und Outsidern. In jedem Fall entscheidet eine wohl überlegte Einstellungspolitik massiv darüber, wie hoch die Anzahl, die Variabilität und die Qualität von Ideen im Unternehmen ist.

* Die Kreativitätsdividende: Wie sich Kreativität auf die Geschäftsergebnisse auswirkt, Forrester 2014/Adobe